Friday, May 26, 2006

Geht's euch gut?

1 Comments:

Blogger sonyca said...

Geht’s euch gut?
Merla wollte eigentlich einen Brief an ihre Eltern schreiben, sobald sie sicher war, dass sie im Wald bleiben würde. Es hätte ja sein können, dass sie sich hier nicht wohlgefühlt hätte (obwohl ihr diese Überlegung jetzt total absurd vorkommt) und weitergezogen wäre. Aber dann hat sie das Briefschreiben vor sich her geschoben und immer weiter vor sich her geschoben, und nun ist sie schon seit über einem Monat hier draußen und hat immer noch nichts geschrieben. Es wird also Zeit. Als sie gegangen ist, hat sie nur einen Zettel unter der Schlafzimmertür ihrer Eltern durchgeschoben, auf dem stand, “Ich kann nicht länger mit ihr im selben Haus leben. Macht euch keine Sorgen.” Sie wollte ja nicht ihre Eltern bestrafen, sie brauchte einfach nur ihre Freiheit, und ihre Schwester schränkt die nun mal massiv ein.

Merla starrt auf den weißen Bogen Papier und weiß nicht, was sie schreiben soll. Sie könnte ja mal mit “Liebe Ma, lieber Pa” beginnen. Danach schreibt sie, “geht’s euch gut?” Sie weiß nicht, wie sie ihr neues Leben beschreiben soll und beginnt, ihren Bauwagen zu skizzieren. Sie deutet sogar das Turmzimmer an, das endgültig beschlossene Sache ist. Sie zeichnet ein paar andere Wagen darumherum, und als sie mit der Skizze zufrieden ist, schreibt sie darunter: “Hier wohne ich jetzt. Der Wagen mit dem Turm obendrauf ist meiner. Den habe ich vor einer Woche billig gekauft. Er muss dringend in Schuss gebracht werden, und den Turm müssen wir erst noch bauen, aber ich will ein Turmzimmer. Mir geht es hier gut, ich kann endlich arbeiten, ohne dauernd abschätzige Worte ertragen zu müssen. Ich vermisse euch, aber nur euch. Ich komme euch bald besuchen. Dann bringe ich Fotos von dem Bildern mit, die ich hier draußen schon gemalt habe. Viele meiner Freunde hier sind Künstler, und eine von ihnen will mich ihrer Galeristin vorstellen. Wer weiß, vielleicht werden meine Bilder bald ausgestellt. Ich hoffe, ihr macht euch keine Gedanken um mich. Mir geht es gut. Fantastisch, sogar. Ich komme bald. Versprochen.
Eure M.”

Merla faltet den Brief und steckt ihn in den Umschlag, der seit Wochen adressiert und frankiert auf ihrem Tisch liegt. Rita fährt gleich in die Stadt, da kann sie den Brief einwerfen, damit ihre Eltern nicht noch länger auf ein Lebenszeichen von ihr warten müssen.

12:55 PM  

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